Man wusste Bescheid

Nicht nur die Wissenschaftler und die globalen Ölkonzerne waren sich seit Jahrzehnten der Klimakrise bewusst. Schon 1982 wurde in Bielefeld Alarm geschlagen. Sogar Beuys war involviert – wenn auch indirekt – mit Warhol am Rande.

Wahlplakat von Warhol
Warhols Wahlplakat für die Grünen, 1980. Graphik der Klimakrise aus einer Veröffentlichung der Kunsthalle Bielefeld, 1982

Am 20. Oktober kam der Bombshell-Bericht, dass Total, der französische Ölkonzern, sich seit 1971 der drohenden Klimakrise bewusst war und dies absichtlich vertuschte, genau wie Exxon, Shell und die anderen. Ihre spätere öffentliche Anerkennung des Klimawandels hat die Firma nicht davon abgehalten, bis heute milliardenschwere Desinformationskampagnen und Lobbyarbeit gegen Klimaschutz und erneuerbare Energien zu betreiben, auch wie Exxon und Shell.

Mein kleiner aber exklusiver Knüller dazu ist, dass die Klimakrise bereits 1982 öffentlich in Bielefeld thematisiert wurde, und dass Andy Warhol und Joseph Beuys, wohl der wichtigste europäische Künstler der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und ein Mitbegründer der Grünen Partei, mit dabei war, wenn auch nur am Rande.

Der Beweis dafür ist Deine Stadt Bielefeld: Das Grün, ein erstaunlich umfassendenes und bahnbrechendenes Stadtbegrünungsprojekt aus diesem Jahr, das von Beuys’ renommiertem und ebenso bahnbrechendem Projekt 7,000 Eiche, gleichfalls aus 1982, inspiriert wurde. Es umfasste eine Ausstellung, ein Buch, ein Veranstaltungsprogramm mit Rundgängen und mindestens einem Vortrag (“Gedanken zur ökologischen Krise”) sowie eine Begrünungsinitiative von einem Verein.

Der den Klimawandel betreffende Teil des Buches ist kurz aber er umfasst alle wichtigen Punkte: den Anstieg des Kohlendioxids in der Atmosphäre durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe in Autos, Flugzeugen, Gebäuden und der Industrie; Erdwärmung; Wüstenbildung; den Meeresspiegelanstieg durch das Abschmelzen der Polkappen.

Sogar die weltbekante Keeling-Kurve ist dabei. Dieses Diagramm der langfristigen Messungen der wachsenden CO2-Konzentration wurde erst circa 1960 veröffentlicht und ist bekannt als deren erste klare und weit verbreitete graphische Darstellung – eine Art Rosetta Stone des Klimawandels (obwohl das Thema bereits seit dem 19. Jahrhundert großteils verstanden und nicht selten diskutiert wurde).

Deine Stadt Bielefeld: Das Grün behandelt hauptsächlich das Stadtgrün – Bäume und ihre Leistungen für Menschen und die Umwelt; Landschaft; Ökologie; die Rolle der Umwelt in der Stadtplanung – in einer fachübergreifenden Art und Weise, die in den Behörden (weltweit, nicht nur in Bielefeld) bedauerlicherweise immer noch eher die Ausnahme als die Regel ist, nicht zuletzt in manchen selbsternannten Öko-haupstädten.

Es wurden aber auch noch andere Fachbereiche integriert, wie Nahrungsnetze und die Absenkung des Grundwasserpiegels aufgrund von übermäβiger Versiegelung und unzureichender Versickerung des Regenwassers. Das Letztere gilt heutzutage als Krise, zum Beispiel im Fall der Hochwasser in Juli in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, die fast 200 Menschen getötet haben, oder die mehrere Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen Deutschland über Gewässerschutz. Zu den Hauptursachen gehört die jahrzehntelang Weigerung der Behörden, sich mit genau den Fragen bezüglich Wasser, wie in Deine Stadt Bielefeld formuliert, zu befassen.

Beuys’ 7.000 Eichen gilt als einer der Höhepunkte sozial engagierter und partizipatorischer Kunst im öffentlichen Raum. Siebentausend Basaltstelen wurden anläßlich der prestigiösen Kunstaustellung Dokumenta in Kassel auf einem Platz zu einem kielförmigen Stapel aufgeschüttet. Sie wurden in den folgenden Jahren nach und nach in der ganzen Stadt verteilt und neben jeder Stele wurde eine Eiche gepflanzt, jede von einer Privatperson oder einem Unternehmen finanziert. Die Einbeziehung der Stadtgesellschaft in Baumpflanzungsinitiativen oder in die Kreation von Kunstswerken mag für uns heute nicht besonders revolutionär klingen, aber damals war dies neu und radikal.

Ein berühmtes Motto von Beuys war “Jeder Mensch ist ein Künstler”, womit er meinte, dass sich jeder aktiv an der Kunst beteiligen kann und sollte, und wenn Beuys von Kunst sprach, meinte er zugleich Politik und Gesellschaft, beide dauerhafte Bestandteile seiner Werke. Zum Zeitpunkt von 7.000 Eichen hatte er seit Jahren das breite Publikum einbezogen und die Barrieren zwischen Kunst, Politik und alltäglichem Leben überwunden.

Beuys hat Deine Stadt Bielefeld direkt inspiriert, und das Projekt veranschaulicht seine Vision einer Fusion von Kunst, Politik und Bürgerbeteiligung. Es wurde nicht von einer Naturschutzorganisation oder ‑behörde präsentiert, sondern vom Kulturhistorischen Museum Bielefeld, dessen Direktor in Kontakt mit ihm stand. Als 1985 die Mittel für die Vollendung der 7.000 Eichen fehlten, schufen Warhol, Keith Haring und dreißig weitere Künstler Werke, die zugunsten des Projekts verkauft und im Bielefelder Museum ausgestellt wurden.

“Ich mag die Politik von Beuys. Er sollte in die USA kommen und dort politisch aktiv werden. Das wäre großartig… Er sollte Präsident werden” – Andy Warhol

Das war nicht Warhols erste Kontakt mit Beuys. Dass Warhol 1980 ein Wahlkampfplakat für die Grünen entwarf ist heutzutage weitgehend vergessen. Es war auf Beuys’ Bitte. Im selben Jahr ergänzte Warhol mit einem Bildnis von Beuys seine weltberühmte Serie von Siebdruckporträts von Legenden wie Marilyn, Elvis und Mao. “Ich mag die Politik von Beuys. Er sollte in die USA kommen und dort politisch aktiv werden. Das wäre großartig… Er sollte Präsident werden”, soll er gesagt haben.

Da Klimawandel nur ein marginaler Teil des Deine Stadt Bielefeld war, ist es unwahrscheinlich dass Beuys viel Kontakt mit dem Thema hatte. Klar ist aber, er war an der Begrünung der Stadt beteiligt. Zu der Vernissage der Ausstellung wurden vor dem Museum Bäume mit den entsprechenden Basaltstelen gepflanzt, als Erweiterung von 7.000 Eichen. Das war der Auftakt des Grünen Rings, eine Initiative von Deine Stadt Bielefeld, den Stadtring mit Bäumen zu säumen. Es hat siebzehn Jahre gedauert, aber 1999 wurde der letzte Baum gepflanzt.

Warhols Porträt von Beuys bei der Vernissage der Benefizausstellung für 7,000 Eichen

Heute sieht der Ring etwas steril aus. Vielleicht liegt das an Bielefelds Stadtbild selbst, vielleicht aber auch daran, dass die Bäume heute immer noch eine nur moderate Grösse aufweisen und in trostlosen Monokultur-Grasstreifen stehen. Niemand würde den Ring als hervorragendes Beispiel einer Integration der Natur in die Stadt nennen.

Aber angesichts der Tatsache, dass zu der Zeit als die Bäume gepflanzt wurden, das Konzept der “Autostadt” die Regel war – eine Ära, die offensichtlich keineswegs vorbei ist -, stellte der Ring eine beachtliche Errungenschaft dar. Als Beuys 7.000 Eichen vorschlug waren Initiativen für Stadtbegrünung, wie man sie heute kennt, noch ungewöhnlich. Er stieß auf Wut und Hass von Bürgern, die auf dem Boden liegende Blätter für einen Angriff auf die Ordnung und nahezu ein Todesurteil wegen der Gefahr des fatalen Ausrutschens hielten.

Was sonst aus dem Ausbruch eines erstaunlich gut informierten Umweltbewusstseins in Bielefeld geworden ist, weiß ich auch nicht. Das Verschwinden der Klimakrise aus dem öffentlichen Diskurs in den folgenden Jahrzehnten könnte die beliebte Behauptung stützen, Bielefeld existiere nicht – wenn es nicht die klare und organisierte Pflichtvernachlässigung seitens der Politiker und des Privatsektors gäbe.

Stellen wir uns vor, was dann in den letzten 40 Jahren passiert wäre, wenn dieser Schwung zu den Themen Klimawandel und Stadtökologie, wie er sich in Deine Stadt Bielefeld manifestierte, erhalten geblieben wäre – nicht nur in Bielefeld, sondern, sagen wir mal, in einer Stadt mit zehnfach mehr Einwohner, einem glänzenden Ruf für alles Öko, und dreißig Jahren ununterbrochener Regierung von sozialdemokratischen und progressiven Parteien, beilspielweise Berlin.